Die Schwiegertochter und der Sohn sind sehr dankbar, dass die betagte Frau S. trotz Sanierung in der Casanostra-Liegenschaft an der Wasenstrasse wohnen bleiben durfte.
Die Frau, um die es geht, ist abwesend. Frau S., mit 93 Jahren die älteste Mieterin von Casanostra, kann zum vereinbarten Termin nicht erscheinen. Seit fünf Tagen ist sie im Spital. Ihr machte schon länger die Inkontinenz zu schaffen, seit einigen Wochen musste sie immer häufiger wasserlösen, zuletzt fast jede halbe Stunde. Verdacht auf Blasenentzündung. Bis endlich die Schwiegertochter Frau S. dazu überreden konnte, einen Arzt zu konsultieren, das erste Mal überhaupt seit mindestens 60 Jahren. Die ärztliche Untersuchung brachte zu Tage, dass Frau S. nicht nur eine Blasenentzündung hat, sondern auch sonst Probleme im Unterleib. Der Arzt überwies Frau S. ins Regionalspital. Dort hat sich ergeben, dass eine Operation vermutlich unvermeidlich sein wird. An Stelle von Frau S. sind ihr Sohn und ihre Schwiegertochter zum Gesprächstermin erschienen, das Ehepaar S. aus Biel. Herr S. arbeitet als Ingenieur, Frau S. pflegt und betreut ihre Schwiegermutter intensiv, seit diese immer hilfsbedürftiger wird. Auch wenn die betagte Frau S. anwesend wäre, wäre ungewiss, ob sie auf konkrete Fragen eingehen könnte. «Sie ist seit einigen Wochen wie durch den Wind», sagt die Schwiegertochter und zeigt auf dem Bildschirm ihres Smartphones ein Porträtfoto ihrer Schwiegermutter: «Damit Sie sehen, von wem wir reden.»
Die Sache mit der Herdplatte
Das Bild zeigt eine feingliedrige Frau im Spitalzimmer, die zufrieden mit der Welt zu sein scheint. Die Unruhe, die sie in den letzten Wochen in der eigenen Wohnung umgetrieben hat, ist ihr in der Obhut des medizinischen Personals nicht mehr anzusehen. Seit einigen Monaten ist klar: Frau S. leidet unter Altersdemenz. Manchmal hat sie das Badezimmer nicht mehr gefunden, manchmal vergessen, dass sie Kaffee aufgesetzt hat. Und also die Herdplatte abzustellen. Ihre Töchter und ihre Schwiegertochter mussten dazu übergehen, Frau S. fast rund um die Uhr zu betreuen. Anderseits wären die Risiken zu gross geworden. Im Wohnzimmer der Wohnung steht ein Notbett, für allfällige Nachtwachen. Die Wohnung ist Teil der Liegenschaft an der Wasenstrasse, die Casanostra 2013 gekauft und in den Folgejahren saniert hat. Der Verein hat sich als soziale Liegenschaftsverwaltung darum bemüht, für alle Mieterinnen und Mieter eine angemessene Lösung zu suchen. «Im Fall der betagten Frau S. heisst das: Einen alten Baum verpflanzt man nicht, vor allem nicht gegen seinen Willen», sagt Heidi Schneider, die anwesende Bereichsleiterin Sozialarbeit von Casanostra. Schneider hat soeben eine Weiterbildung in Geriatrie absolviert. «Aufgrund der demografischen Entwicklung wird es in Zukunft immer mehr ältere, hilfsbedürftige Menschen geben, die zusätzlich von Armut betroffen sind. Darauf bereiten wir uns vor, indem wir auch im Altersbereich Fachwissen aufbauen, um ältere Menschen angemessen begleiten zu können.» Das Ehepaar S. ist Casanostra sehr dankbar dafür, dass die betagte Frau S. in der Liegenschaft wohnen bleiben darf. «Normal wäre ja, dass nach einer aufwändigen Sanierung ein Mieterwechsel stattfindet», sagt Herr S. «Deshalb haben wir uns grosse Sorgen gemacht, als wir vom Verkauf hörten.» Er selber ist im Nachbarshaus aufgewachsen, zusammen mit seinen drei Schwestern und seinen Eltern. Er erinnert sich noch daran, wie es im Haus weder Zentralheizung noch Waschmaschine gab, wie der Vater im Waschhaus im Hof morgens um 3 Uhr den Kessel aufs Feuer gesetzt hat, damit die Mutter um 5 Uhr ihren Waschtag beginnen konnte. «Die Stadt hat bis zum Verkauf an Casanostra jahrzehntelang nur wenig Geld in den Unterhalt investiert.» Der Vater ist schon länger verstorben; wie die Mutter hat er fast zeitlebens im «Wasen» gewohnt, wie die Häusergruppe im Quartier genannt wird. Herr S. kramt einen Mietvertrag aus dem Jahr 1958 hervor, abgeschlossen zwischen Vater S., Chauffeur, Biel, und der städtischen Liegenschaftsverwaltung. Mietpreis für die Dreizimmerwohnung dazumal: 1236 Franken. Pro Jahr! Herr S. erzählt von seiner glücklichen Kindheit in dieser belebten Liegenschaft mit ihren günstigen Mieten: «Es spielten fast immer 10 bis 15 Kinder im damals autofreien Hof. Die Siedlung war gut durchmischt. Ein Polizist, der zum Rechten schauen sollte, wohnte im Quartier. Dazu gab es Familien wie wir, darunter auch angesehene Uhrenmacher, aber auch Männer mit einem Alkoholproblem. Wir Kinder kugelten uns vor Lachen, wenn am Wochenende ein Betrunkener nach Hause kam und beim Versuch, gegen einen Fussball zu treten, das Gleichgewicht verlor.» Autofrei ist der Innenhof auch heute wieder geworden. Und auch heute eine soziale Durchmischung in der Liegenschaft sicherzustellen, ist ein wichtiges Ziel von Casanostra. An der Wasenstrasse sind die Voraussetzungen dafür besonders günstig. «Das Quartier selber ist gut durchmischt, und die Wohnungsgrundrisse erlauben es, auch Mietwohnungen für Klientinnen und Klienten mit Kindern anzubieten», sagt die Sozialarbeiterin Schneider. «Grössere Wohnungen im Angebot zu haben ist ein Anliegen unseres Vereins, weil besonders viele Alleinerziehende arm sind.» Es ist Ende Januar 2016. Die Sanierungsarbeiten an der Wasenstrasse sind noch im vollen Gang. Im Hof stehen nebst einer Baumulde die Lastwagen von lokalen Baufirmen. Zwei Drittel der CasanostraWohnungen sind bisher vermietet. Sozialarbeiterin Schneider kommentiert den aktuellen Mieterspiegel: «Da ist ein Schweizer mit seinem 16jährigen Sohn, das zweitjüngste von vier Kindern. Der Mann lebt getrennt von seiner Frau und den anderen Kindern, bezieht Sozialhilfe, hat kaputte Knie, die ihm zu schaffen machen. Dann Herr B. mit seiner Frau. Er kommt aus Portugal, arbeitet bei einem Elektriker, verfügt über eine Aufenthaltsbewilligung B, seine Frau aus Portugal lebt jetzt auch in der Schweiz, im Rahmen des Familiennachzuges. Die Familie lebt weitgehend selbständig, hätte ohne Casanostra keine Wohnung gefunden. Im selben Haus wohnt eine Schweizerin, die ursprünglich ein Adoptivkind aus Asien ist. Nachdem ihre Kinder ausgezogen waren, lag der Mietpreis ihrer früheren Wohnung über den Normen der Sozialhilfe. So kam sie zu Casanostra. Sie hat gesundheitliche Probleme und braucht eine wöchentliche Wohnbegleitung. Herr D. hat schon vorher in der Siedlung gewohnt, wir haben ihn als Mieter von der städtischen Liegenschaftsverwaltung übernommen. Er ist IVTeilrentner, kann weitgehend alleine funktionieren, braucht aber Geborgenheit in seiner Wohnsituation. Ein anderer Mieter hat ebenfalls schon vorher in der Siedlung gewohnt. Bezeichnete sich als ITSpezialist. Hatte dann aber bei Casanostra Mietausstände, das Mietverhältnis haben wir gekündigt. Eine andere Wohnung, die er mieten konnte, hat er ebenfalls wegen Mietausständen gleich wieder verloren. Inzwischen wohnt er wieder bei uns und es hat sich herausgestellt, dass er keine Berufsausbildung hat und von der Sozialhilfe lebt. Seit Kurzem ist er mit einer Frau aus Brasilien verheiratet, die schwanger ist, ein Kind aus einer früheren Beziehung mitbringt und in seiner Wohnung einziehen will. Ein anderer Mieter, ein Schweizer, hat Suchtprobleme, ist in einem Substitutionsprogramm. Eine weitere Mieterin, ebenfalls Schweizerin, ist nach der Trennung von ihrem langjährigen Partner in eine Lebenskrise geraten. Sie kommt eigentlich aus einer guten Mittelstandsfamilie. Allein auf sich gestellt, versucht sie ihr Leben wieder neu einzurichten. Weil sie kein Einkommen ausweisen konnte, fand sie keine Wohnung. Inzwischen hat sie eine Teilzeitstelle gefunden. Sie hat zwei schulpflichtige Töchter, die zeitweise bei ihr wohnen. Herr D. schliesslich wohnte bisher in einer unserer gemieteten Wohnungen im Madretschquartier, in einer eher verwahrlosten Liegenschaft im niederschwelligen Wohnungsangebot. Aufgrund seiner Wohnbiografie, die grosse Lücken aufweist, war es ihm nicht möglich, selber eine Wohnung zu finden. Seine Wohnung von Casanostra aber war dann immer in einem tadellosen Zustand. Aufgrund der schwierigen Nachbarschaft im Haus fühlte er sich nie wirklich wohl. Die etwas gepflegtere Umgebung in der Wasenstrasse passt jetzt besser zu seinem Naturell. Mit seinem Verhalten trägt er auch wesentlich zur Stabilität in der Liegenschaft bei.» Gerade die beiden letzten Mieterbeispiele zeigen, wo die Grenzen im Durchmischungskonzept an der Wasenstrasse liegen. Die Wohnungen sind in einem so guten Zustand, dass sie auch einer ehemaligen Mittelstandsfrau mit ihren Töchtern ein Daheim bieten. Anderseits wären Problemmieter, wie sie Casanostra in nicht sanierten Mietwohnungen beherbergt, an der Wasenstrasse mit dem gepflegten Wohnraum und der Nachbarschaft überfordert. Denn die erfordert durchaus Rücksichtnahme. «Als wir hörten, dass ein Verein für Wohnhilfe die Liegenschaft gekauft hat, haben wir uns zu Beginn Sorgen gemacht», sagt Herr S. «Wir fragten uns, wer da alles einziehen wird, als Nachbarn unserer betagten Mutter.» Seine Frau ergänzt: «Um uns zu informieren, haben wir Zeitungsartikel gelesen, die über Casanostra veröffentlicht wurden, und haben gemerkt, dass es sich um eine sehr seriöse Institution handelt. Der persönliche Kontakt zu Frau Schneider hat unsere letzten Bedenken zerstreut.»
Der Nachbar aus Nordafrika
Die betagte Frau S., die aufgrund der Gesamtsanierung von der Wasenstrasse 44 an die Wasenstrasse 46 umgezogen ist, von einer Drei in eine Zweizimmerwohnung, habe sich gut eingelebt im neuen Haus, erzählt das Ehepaar S. Mit der neuen Nachbarschaft habe sie überhaupt keine Probleme gehabt. Insbesondere der junge Mann aus Nordafrika, der gleich unter ihr wohnt, sei ihr mit seinen Aufmerksamkeiten sogar eine grosse Unterstützung gewesen. Die Vergangenheitsform dieser Aussage zeigt: Zurzeit ist es höchst ungewiss, ob Frau S. wieder an die Wasenstrasse zurückkehren wird oder nicht. Und ob sie auch in Zukunft noch zur altersmässigen Durchmischung der Liegenschaft beitragen kann. Ihr erster Spitalaufenthalt ist ihr leichter gefallen als erwartet. Die professionelle Pflege hat sie sehr geschätzt, ebenso den Kontakt zu den vielen Menschen. Nun wartet sie auf ihren Operationstermin. Vor einem Jahr, als der Umzug innerhalb der Liegenschaft an der Wasenstrasse anstand, sei ein Übertritt in eine Pflegeinstitution auch schon ein Thema gewesen, sagt Frau S., die Schwiegertochter. Doch sei ihre betagte Schwiegermutter damals in einer viel besseren Verfassung gewesen als heute. Und es sei ihr damals ein grosses Anliegen gewesen, weiterhin in jener Liegenschaft wohnen bleiben zu können, die fast ein Leben lang ihr Zuhause gewesen sei. In vertrauter Umgebung, in Gehdistanz zum langjährigen Fleischer, Bäcker und Friseur.
Aufgezeichnet im Januar 2016



